Jungenarbeit ist keine Methode und erschöpft sich nicht in pädagogischem „Handwerkszeug“, sondern wird von einer bewussten Haltung und der fachlichen Einsicht geprägt, dass die Sozialisationsbedingungen Heranwachsender von vielen Kategorien gefördert oder auch blockiert werden. Dazu gehört neben vielfältigen persönlichen und sozialen Lebenslagen, ethnisch-kulturellem Hintergrund, möglichen Benachteiligungen, etwa durch Migration oder Wohnort, entscheidend die Kategorie Geschlecht.
Mit der Kernaussage „Man kommt nicht als Frau auf die Welt, man wird es.“, hat die berühmte Philosophin und Schriftstellerin Simone de Beauvoir bereits vor 50 Jahren die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht eingeleitet. Es sind die gesellschaftlichen und kulturellen Bilder, die festlegende Frauen-, aber auch Männerrollen über Jahrhunderte geprägt haben und noch immer prägen. Die Reflexion der eigenen Biographie, aber auch das Hinterfragen gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, Stereotype und Normen ist heute für das pädagogische Handeln von Fachmännern und –frauen von wesentlicher Bedeutung und steht daher im Zentrum dieser Weiterbildung. In den verschiedenen zwei- bis dreitägigen Arbeitseinheiten setzen sich die Trainingsteilnehmer, vermittelt durch praktische Übungen, Reflektionen, aber auch durch grundlegende theoretischen Inputs von hochqualifizierten Trainer_innen, wie Claudia Wallner und Reinhard Winter, die Modul 1 bzw. 2 bereicherten, mit wesentlichen Themen, wie etwa Sozialisation, Bildung , Gesundheit, Sexualität und Interkulturalität aus genderspezifischer Perspektive auseinander.
Mit Andreas Duelli (Dipl. – Sozialpädagoge und Erziehungsstellenberater bei der Stiftung Jugendhilfe aktiv), einem Teilnehmer des aktuellen Kurses, hat die LAG Jungenarbeit BW anlässlich des Beginns des 4. Kurses ein Gespräch geführt:
LAG J BW: Am 17. Juni 2013 hat die vierte zertifizierte Weiterbildung zum Jungenarbeiter begonnen. Wie hast Du davon erfahren, und was motivierte Dich, teilzunehmen?
Im Rahmen unserer Begleitung der Kinder und Jugendlichen, die in Erziehungsstellenfamilien (professionelle Pflegefamilien) leben, stellen diese jungen Menschen immer wieder ähnliche Fragen, die sie beschäftigen. Es handelt sich dabei um Fragen der Identitätssuche und Zugehörigkeit. Mädchen und Jungen haben dazu unterschiedliche Zugänge. Mädchenarbeit wird von meinen Kolleginnen angeboten. Ich habe bereits mit den Jungen gearbeitet, die Arbeit wieder unterbrochen und gemerkt, dass ich sowohl theoretisch als auch praktisch mehr Sicherheit brauche.
Dazu habe ich passende Fortbildungen gesucht. Konkret erfahren habe ich von der Weiterbildung durch den Messestand der LAG Jungenarbeit auf dem 14. Kinder- und Jugendhilfetag in Stuttgart. Weitere Infos habe ich aus dem Internet.
LAG J BW: Zwei Module liegen bereits hinter Dir und Deinen Mitstreitern. Worin bestanden die „Highlights“, was war vielleicht auch schwierig oder gewöhnungsbedürftig für Dich?
Schwerpunkt des ersten Moduls war u.a. geschlechterbezogenes Arbeiten mit Mädchen und Jungen. Es führte bei mir zu Irritationen. Was ist ein Junge? Was ist ein Mädchen? Die biologische Definition ist nur eine Möglichkeit. Die verschiedenen Themen und Übungen dazu veränderten meine Perspektive erheblich und es entwickelt sich bei mir inzwischen ein neuer alltagstauglicher und handlungsorientierter Blick. Ein zentrales Ergebnis ist aber, dass ich im Alltag viel aufmerksamer für geschlechterbezogenes Verhalten bin.
Jungengesundheit und Sexualpädagogik stand im Mittelpunkt des zweiten Moduls. Ein großer Gewinn war für mich, den Begriff Gesundheit neu zu füllen (körperlich, psychisch und sozial) und den Zusammenhang mit der Zielgruppe Jungen und der Haltung zu meiner Gesundheit herzustellen. Erstaunlich, was die Zusammenführung meist bekannter Inhalte an neuen Gedanken auslöst und zu neuen Erkenntnissen führten kann.
Es ist in diesen beiden Modulen hervorragend gelungen, eine passende Mischung aus Theorie und Praxis, pädagogischen Handlungsanleitungen, praktischen Übungen und Selbsterfahrungsanteilen herzustellen. Mich selbst als Mann in dieser Arbeit zu den einzelnen Themen zu hinterfragen, Selbsterfahrungen zu machen, ohne dass es ausufert, wie auch die Erfahrung, in einer Männergruppe zu arbeiten, sind wertvolle Bausteine dieser Weiterbildung.
Die Arbeit mit Männern genieße ich sehr. Sie ist mir aus der Männerarbeit nicht fremd. Ich schätze hier schon eine Form der Vertrautheit in der Gruppe, die zum einen durch die Leitung mit ihren Persönlichkeiten sowie mit entsprechenden Übungen, zum anderen durch die einzelnen Telnehmer, die sich in einer sehr offenen Art einbringen, entstanden ist. Die unterschiedlichen Arbeitsfelder der Teilnehmer und ihre Erfahrungen in der Jungenarbeit aber auch die Lebenserfahrungen jedes Einzelnen und damit die Persönlichkeit machen die Weiterbildung zu einem Forum von spannendem fachlichem Austausch, Erfahrung der Gemeinsamkeit und sauguten Männergesprächen.
Zum Thema „schwierig“ und „gewöhnungsbedürftig“ kann ich bisher nichts beisteuern.
LAG J BW: Teil der Fortbildung ist ein Praxisprojekt. Was reizt Dich daran, und was möchtest Du gern ausprobieren?
Ich habe verschiedene Ideen. Sie sind noch nicht ausgereift. Vermutlich geht es dahin, ein oder zwei Einheiten mit Jungen zu den Themen „Identitätssuche“ und „Zugehörigkeit“ durchzuführen, die unter der Überschrift Biografiearbeit steht. Biografiearbeit ist wichtiger Bestandteil der Erziehungsstellenarbeit und konzeptionell verankert. Die unterschiedlichen Zugänge von Mädchen und Jungen erfordern es aber, den geschlechterbezogenen Aspekt zu diesem Thema herauszuarbeiten und diese Erkenntnisse als ein wichtiges Angebot in unsere Arbeit zu integrieren.
LAG J BW: Wie lässt sich die Erfahrung der berufsbegleitenden Weiterbildung in Deine berufliche Arbeit einbauen?
Ich sehe mich nach den zwei Modulen bestätigt, dass ich auf dieser Weiterbildung „richtig“ bin. Ich profitiere aus vielen Bereichen, die in den Seminaren zum Tragen kommen. Neben den Kontakten zu den Teilnehmern unter dem Thema Jungenarbeit und den vielen Erfahrungen, Inputs und Fragen, die von den Teilnehmern zusammenkommen, sind es veränderte Sichtweisen und Achtsamkeit auf den geschlechterbezogenen Blick, die schon auf mich wirken. Ich denke, dass mich diese Entwicklung näher an die Bedürfnisse und Probleme der Jungen bringen wird. Neue Handlungsmöglichkeiten sind schon erfahrbar, die sich mit den kommenden Seminaren sicher erweitern werden. Vielleicht noch wichtiger wiegt das Gefühl der Sicherheit mit den Jungs und ihren Themen wie auch dem Umgang der jungenbezogenen Arbeit nach außen.
LAG J BW: Die LAG Jungenarbeit versteht sich als Fachorganisation der genderbewussten Arbeit mit Jungen, mit Schwerpunkten in der Vernetzung, Qualifizierung und politischen Interessenswahrnehmung. Welche über die Fortbildung hinaus gehenden Erwartungen hast Du in diesem Kontext an Geschäftsstelle und Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft?
Ich halte es für wichtig, dass sich eine Fachorganisation mit den aktuellen Entwicklungen auseinandersetzt und dazu Stellung bezieht – sowohl in der inhaltlichen Debatte als auch auf politischer Ebene. Auch wenn „Jungenarbeit“ schon lange kein Fremdwort mehr ist, so ist ihre Rolle in verschiedenen Arbeitsfeldern höchst unterschiedlich gewichtet und mit unterschiedlichem Ansehen versehen. Aus den komplexen Zusammenhängen wirtschaftlicher, politischer, fachlicher und pädagogischer Interessen gilt es, neue Entwicklungen aufzugreifen und auf den verschiedenen Ebenen zu vertreten. Das ist enorm schwierig. Die drei oben genannten Schwerpunkte sind für mich zentrale Aufgaben der LAG. Ich sehe die LAG Jungenarbeit als Schnittstelle in Form eines Knotenpunktes, an dem vieles zusammenläuft, an dem man in neue Richtungen geführt wird, Impulse holt und weitergibt, Austausch und Kontakt stattfindet, Praxis und Theorie auf organisatorischer und praktischer Ebene verbindet. Es ist Vernetzung weit über die personelle Ebene hinaus.