Dokumentation des Göppinger Fachtags

02. Juni 2014, Göppingen

Zusammenfassung

Am 2. Juni 2014 fand in Zusammenarbeit zwischen der LAG Jungenarbeit Baden-Württemberg, dem Göppinger Arbeitskreis Jungenpädagogik und weiteren Unterstützer*innen der o.g. Fachtag statt.

Die Resonanz auf das Thema war überwältigend und mit 150 Teilnehmenden, insbesondere aus psychologischen Beratungsstellen, Schulsozialarbeit und der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, wurde im Hohenstaufen-Saal des Göppinger Landratsamtes die absolute logistische Obergrenze erreicht. Dennoch musste die LAG Jungenarbeit über 50 Absagen erteilen. So erfreulich das hohe Interesse war, so sehr lässt, es doch aufhorchen, „denn dahinter steht ja das praktische Bedürfnis nach Antworten darauf, warum schon heranwachsende Jungen und, Mädchen in so tiefe Krisen geraten, dass sie mit selbstverletzenden und extrem selbstschädigender Weise reagieren bzw. um Hilfe rufen“., so Michael Schirmer, Referent der LAG Jungenarbeit in seiner Begrüßung. Diese Antworten wurden in Vorträgen, Workshops und einem Podiumsgespräch in vielfacher Weise aus psychologischer, therapeutisch-beratender und sozialpädagogischer Perspektive gegeben.

Vorträge

Einführung in das Thema

Dr. med. Markus Löble

Grußwort Dr. Löble (PDF)

Bereits in seiner Begrüßung, die eine exzellente Einstimmung in das Thema bot, ging Dr. Markus Löble Chefarzt der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie im Klinikum Christophsbad auf die oben gestellte Frage ein. In seiner prägnanten, literarisch unterfütterten Einführung spannte er den Bogen von der „Normalität“ suizidalen Verhaltens hin zur Katastrophe, die ein vollendeter Suizid für den Betroffenen und seine Umwelt immer bedeuten. Er gab zu bedenken, dass die Möglichkeit zum Suizid zur Conditio humana gehört.

Suizidalität im Kindes- und Jugendalter

Stefan Helbing

Powerpoint-Präsentation (PDF)

Im Einführungsvortrag von Stefan Helbing ging es darum, Suizid und Suizidalität unter Einbezug der Geschlechterperspektive aus psychologischer und psychiatrischer Sicht einzuordnen, zu analysieren, Hintergründe und Zusammenhänge zu beschreiben, Phänomene zu definieren, um für suizidale Gefährdungen zu sensibilisieren. Er grenzte dabei soziale und psychische Krisen von psychiatrischen Erkrankungen ab. Außerdem gab er praktische Anregungen für den professionellen Umgang mit suizidgefährdeten Mädchen und Jungen.

Suizidalität im gesellschaftlichen und sozialen Kontext

Prof. Dr. Thomas Heidenreich

Powerpoint-Präsentation (PDF)

Multidisziplinär näherte sich Prof. Dr. Thomas Heidenreich in seinem Einführungsvortrag dem Phänomen Suizidalität und Selbstverletzung. Dabei bezog er nach einer ersten Begriffsklärung und Einordnung auch historische, gesellschaftliche, ethische und interkulturelle Faktoren in seine Präsentation ein. Wichtig war dabei seine Botschaft, dass gesellschaftliche Rahmenbedingungen entscheidenden Einfluss auf gelingendes Leben oder die Einschränkung von Lebenschancen, eine Einengung die bis zur Selbsttötung reichen kann, haben.

„Mann, bleib gesund“. Ein „Best Practise Beispiel“ aus der Männerarbeit

Andreas Kadel

Skript A. Kadel (PDF)

In seiner Arbeit mit Männern bedient sich Andreas Kadel, Arzt im Göppinger Gesundheitsamt, einer Mischung aus Literatur-Lesung und fachlichem Vortrag, um Männer in Krisen überhaupt zu erreichen und ihre Sensibilität für diese Krisen, die sie oft gar nicht oder zu spät spüren, zu stärken und ihnen zu ermöglichen, darüber sprechen zu lernen. Prägnant zeichnete er in seinem Impulsreferat den Weg nach, den er mit Männern geht und vermittelte dabei „en passant“ u.a. Grundkenntnisse zum Zusammenhang von Depression, Aggression und Selbsttötung (vgl. auch die entsprechende Passage im Video).

Workshops

WS 1: Umgang mit Suizidalität in der Arbeit mit jungen Menschen

Kerstin Herr

Kurzdokumentation Workshop 1 (PDF) Handout K. Herr (PDF)

Im Fokus des ersten Teils des WSs standen Fragen nach der Unterschiedlichkeit zwischen der Arbeit mit Kindern und Erwachsenen zum Thema Suizidalität, aber auch zu rechtlichen Grundlagen und persönlichen Unsicherheiten. In der zweiten Workshop-Hälfte konnten die Teilnehmenden in Kleingruppen Fallbeispiele aus ihrer Praxis einbringen und ein mögliches Beratungsgespräch durchspielen.

WS 2: Menschen ins Leben einladen – Neue Beratungsansätze für suizidale Krisen

Roland Kachler

Handout R. Kachler (PDF)

In seinem WS sensibilisierte R. Kachler für Anzeichen von Suizidalität und plädierte dafür, diese ernst zu nehmen und zu würdigen. Er gab Rüstzeug an die Hand, um das Suizidrisiko in konkreten Fällen besser einschätzen zu können und stellte Schutzfaktoren vor. Sehr konkret und praxisnah verhalf er den Teilnehmenden, beobachtbare suizidale Phänomene zur Sprache zu bringen und mit lebenserhaltenden Schutzfaktoren bzw. Bedürfnissen in Kontakt zu kommen.

WS 3: Geschlechterbewusstes Arbeiten mit Jungen in Krisensituationen – Sozialberaterische Zugänge

Thomas Knichal

Powerpoint-Präsentation WS3 (PDF)

Nach einer kurzen Begriffsklärung stellte Herr Knichal Modelle vor (Krisen- und Krankheitsmodell; Phasenmodell), die Indikatoren und Auslöser für Suizidalität im Lebensverlauf beinhalten und die statistisch auffällig höhere Rate bei Jungen unter 21. Er gab Hinweise zur Diagnostik und verwies auf geschlechtsbezogene Risikofaktoren. Dabei vermittelte er die besondere Brisanz bestimmter Bewältigungsstrategien bei Jungen und Männer. U. A. mit Hilfe des Balancemodells (nach R. Winter) gab er den Teilnehmenden ein Modell für die Arbeit mit (suizidgefährdeten) Jungen an die Hand.

WS 4:„Ich muss mein Blut fließen sehen, damit ich weiß, dass ich noch am Leben bin.“ – Selbstverletzendes Verhalten

Irmgard Baudis

Kurzdokumentation WS4 (PDF) Powerpoint-Präsentation WS4 (PDF)

Frau Baudis stellte „Selbstverletzendes Verhalten“ (SVV) in den Mittelpunkt ihres WSs, ein Thema, das bewusst in den Fachtag integriert worden war, obwohl es vom Suizid abzugrenzen bzw. konträr zum Suizid zu verstehen ist. Sie betonte, dass SVV nicht die Funktion hat, das Leben zu beenden, sondern vielmehr, als Beweis gilt, lebendig zu sein, sich zu spüren und am Leben teilzunehmen.

Zentrale Themen des Workshops waren Ursachen, Risikofaktoren und Funktionen von SVV. Die Referentin ging auch auf Hinweise ein, die auf SVV schließen lassen und griff die Themen Intervention und Prävention auf. Frau Baudis führte anhand eines anschaulichen Falles in das Thema ein und griff diesen als auch andere Fälle im Laufe des Workshops immer wieder auf, um theoretische Hintergründe verständlich zu erläutern.

WS 5: Psychiatrische Ansätze der Heilung – Praxisnahe Antworten eines Klinischen Experten

Dr. med. Gottfried Maria Barth

Kurzdokumentation WS5 (PDF) Powerpoint-Präsentation WS5 (PDF)

In seinem WS vermittelte Dr. Barth profunde Grundkenntnisse des Themas und sensibilisierte für die Möglichkeiten eines fachlichen Umgangs mit suizidgefährdeten Jungen und Mädchen. Dabei arbeitete er mit vielen praktischen Beispielen und legte einen Schwerpunkt auf Prävention. Dr. Barth entdramatisierte u.a. pathologische Diagnosen: Diese seien „grundsätzlich nichts Schlimmes“ (Ausnahme: Borderline – Persönlichkeitsstörungen!), doch der noch immer diskriminierende Umgang und das mit der Diagnose verbundene Stigma führen zu Tabus. Er beschrieb Risiko- und andere grundlegende Faktoren des Themas, plädierte für ein Leben in Beziehung, und die Förderung dessen, was im Menschen lebendig ist.

Abschlusspodium: Auswege und Hilfen aus suizidalen Lebenskrisen

Kurzdokumentation Abschlusspodium (PDF) Fachtag-Flyer (PDF) Kurzdokumentation des Fachtages (PDF)

Alle Referierenden der von Michael Schirmer, Referent der LAG Jungenarbeit BW moderierten Podiumsdiskussion, ermutigten die Teilnehmenden Achtungszeichen und Signale für den Suizidwunsch der Betroffenen aufzugreifen und anzusprechen. U.a. wurde die Bedeutung von Krisen betont und die Wichtigkeit, sich auch als Helfende*r nicht zu isolieren und ein in der Regel vorhandenes Hilfesystem zu nutzen. Dieses besteht in vielfältiger Weise, von professionellen Beratungsstellen, Selbsthilfevereinen, Onlineberatungen bis hin zu Fachkliniken. Im Akut-Fall müssen Letztere zu jeder Tag- und Nachtstunde Betroffenen Hilfe leisten, sie notfalls stationär aufnehmen. Auch die Unterschiedlichkeit der Geschlechter im Umgang mit Selbstverletzung und Suizid, als zwei völlig verschiedene Phänomene, wurde herausgearbeitet.

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