Wie können Fachkräfte Jungen* mit und ohne Beeinträchtigungen in ihrer sexuellen und geschlechtlichen Entwicklung stärken – ohne stereotype Zuschreibungen?
Ein Gespräch zwischen Joel Wardenga und Daniel Deggelmann über inklusive Jungen*arbeit
Zur Zusammenfassung in einfacher Sprache
Am 10. Oktober 2025 veranstaltet die LAG Jungen*- & Männer*arbeit BW einen Workshop zum Thema „Inklusive Jungen*arbeit“. Unser Bildungsreferent Joel Wardenga hat das Format gemeinsam mit dem Sexualpädagogen Daniel Deggelmann (pro familia Stuttgart) konzipiert. Im folgenden Gespräch geben die beiden Einblicke in zentrale Fragen und Herausforderungen – und warum Inklusion vor allem eines bedeutet: sich auf den Weg zu machen.
Joel: Hallo Daniel, schön, dass wir heute über unseren gemeinsamen Workshop sprechen können. Wie geht’s dir?
Daniel: Hallo Joel! Ich freue mich auf unser Gespräch – und auf meinen Urlaub, der bald ansteht. Und dir?
Joel: Ich bin noch ein bisschen müde, aber sehr motiviert. Vielleicht zum Einstieg: Erzähl uns doch kurz, was du machst und wie dein Zugang zur Inklusion aussieht.
Daniel: Ich arbeite als Sexualpädagoge bei pro familia Stuttgart. Dort begleite ich Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Beeinträchtigungen – aber auch deren Eltern, Partner*innen oder Fachkräfte in Wohngruppen, Werkstätten oder Förderschulen. Inklusion ist in meiner Arbeit Alltag. Wie sieht’s bei dir aus?
Joel: Ich arbeite als Bildungsreferent in der Jungen*arbeit, also mit Fachkräften, die Jungen* in ihrer Entwicklung begleiten. Dabei fällt mir auf, wie stark Anforderungen wie Leistung, Unabhängigkeit und Normalität mit Männlichkeitsvorstellungen verknüpft sind, denen die Jungen* ausgesetzt sind – und wie weit dadurch eine inklusive Praxis oftmals von den Erfahrungen und Erwartungen der Jungen* entfernt ist und was für ein Potenzial sie bietet. Gleichzeitig erzeugt das Wort „Inklusion“ bei mir auch Unsicherheit: Was heißt das eigentlich konkret für mein pädagogisches Handeln?
Daniel: Ja, diese Unsicherheit kenne ich gut – vor allem zu Beginn. Man will diskriminierungsfrei arbeiten, weiß aber auch: Das ist nie vollständig möglich. Diese Erkenntnis kann erstmal Druck erzeugen – aber auch der Startpunkt für eine reflektierte Haltung sein. Nämlich zu fragen: Was halte ich für „normal“ – und warum? Und was bedeutet das für mein Handeln?
Joel: Und wie gehst du dann praktisch an die Arbeit ran?
Daniel: Der erste Schritt ist immer, mit den Fachkräften vor Ort ins Gespräch zu gehen. Wer ist die Zielgruppe? Was sind ihre Bedarfe? Welches Material brauche ich, um gut in den Kontakt zu treten? Welches Medium haben wir für den Austausch? Bei Menschen mit Sehbehinderung arbeite ich z. B. viel sprachlich und mit haptischen Materialien wie Modellen der Geschlechtsorgane. Bei kognitiven Einschränkungen ist es herausfordernd, weil unklar ist, wie gut abstrakte Modelle auf die eigene Realität übertragen werden können. Da muss man dann kreativ werden.
Daher auch mein wichtigster Grundsatz: sich Zeit nehmen.
Joel: Du meinst, dass man sich viel Zeit für die Arbeit mit den Gruppen nehmen soll?
Daniel: Für die Vorbereitung, für die Gruppen und für sich selbst. Das kann auch heißen, dass man sich Zeit für und in einer Fortbildung nimmt, um sich wirklich bewusst zu werden, wo man gerade steht, was es zu lernen gilt und wo eigenes zu hinterfragen ist. Fortbildungen, wie auch unser Angebot, sind dafür die perfekte Gelegenheit, denn man kann ohne Handlungsdruck reflektieren, was man weiß, was man noch lernen will und wo es Unsicherheiten gibt. Das ist eine wichtige Voraussetzung für eine gelingende inklusive Praxis.
Joel: Was ist dein übergeordnetes Ziel in deiner Arbeit?
Daniel: Im Grunde geht es immer um eins: sexuelle Selbstbestimmung fördern. Menschen sollen ihre Rechte kennen – und sie auch wahrnehmen können. Das ist vor allem eine Frage der Haltung: Ich muss mich öffnen für die Fragen, Anliegen und Lebensrealitäten der Menschen. Gerade bei Jugendlichen mit Beeinträchtigung begegnet mir oft die verdeckte Frage: „Bin ich normal?“
Inklusion eröffnet eine andere Perspektive: Sie verschiebt den Fokus weg von Abweichung und hin zu Vielfalt. Es geht um Empowerment der Person statt Anpassung an eine Norm.
Joel: Das erinnert mich an einen Satz, den du in unserer Vorbereitung gesagt hast: „Inklusion heißt, dass es normal ist, verschieden zu sein.“
Das trifft auch auf geschlechterreflektierte Jungen*arbeit zu. Viele Jungen* stellen sich, oft unausgesprochen, genau diese Frage, ob sie okay sind, wie sind, bzw. nach der von ihnen geforderten „Normalität“. Unsere Aufgabe ist es, die Jungen* so zu begleiten, dass sie ihre Einzigartigkeit nicht als bedrohliche Abweichung, sondern als Qualitätsmerkmal erleben. Im Grund eben, dass es normal ist, verschieden zu sein. Anknüpfend an diesen Satz: was bedeutet Inklusion für dich?
Daniel: Inklusion ist etwas Bereicherndes. Sie erweitert unseren Blick – auch auf Männlichkeit. Denn Männlichkeitsbilder sind oft mit Stärke, Dominanz und dem „Heldentum“ der Überwindung von Schwäche verknüpft. Doch viele Jungen*, insbesondere mit Beeinträchtigung, die ja immer mit einer bestimmten Schwäche und Vulnerabilität einhergeht, passen nicht in dieses Bild. Das fordert uns heraus, eigene Bilder von Männlichkeit zu hinterfragen.
Joel: Total. Oft wird Jungen* ihre Verletzlichkeit abgesprochen – oder sie verlernen, sie überhaupt wahrzunehmen. Das betrifft sie selbst, aber auch uns Fachkräfte, die wir durch gesellschaftliche Prägung ihre Verletzungsoffenheit manchmal übersehen. Ich kann mir vorstellen, dass das in deiner Arbeit besonders sichtbar wird?
Daniel: Ja. Deshalb geht es mir darum, verschiedene Formen von Männlichkeit sichtbar zu machen und zu würdigen – sodass alle Jungen* ein selbstbestimmtes und grenzachtendes Leben führen können.
Unsere Bilder von Geschlecht und Behinderung beeinflussen unser Handeln – ob wir wollen oder nicht. Es lohnt sich, diese Bilder kritisch zu betrachten.
Denn wie gesagt: Inklusion heißt, auf dem Weg zu sein.
Joel: Danke, Daniel. Ich freue mich darauf, diesen Weg gemeinsam mit Fachkräften im Workshop weiterzugehen.
Daniel: Ich mich auch – danke dir!
Kontakt zum Team der LAGJ*M* BW:
joel.wardenga@lag-jungenarbeit.de
Weitere Informationen & Anmeldung für den Workshop ist unter folgendem Link möglich:
Zusammenfassung in einfacher Sprache:
Wer spricht hier?
Joel Wardenga und Daniel Deggelmann sprechen miteinander.
Joel arbeitet zum Thema Jungen*arbeit. Daniel ist Sexualpädagoge bei pro familia Stuttgart.
Beide bereiten einen Workshop zur inklusiven Arbeit mit Jungen* vor.
Worum geht es im Gespräch?
Joel und Daniel reden über die Arbeit mit Jungen*.
Jungen* mit Sternchen heißt: Jungen sind verschieden und das ist gut so.
Auch Jungen* mit Behinderungen sollen gut begleitet werden.
Es geht um die Themen Körper, Gefühle, Geschlecht und Sexualität.
Die Fachkräfte sollen alte Rollenbilder erkennen und hinterfragen.
Was ist Inklusion?
Inklusion heißt: Alle gehören dazu. Auch Jungen* mit Behinderungen.
Für die beiden ist Inklusion ein Prozess – man muss sich immer weiterentwickeln.
Was sagen Joel und Daniel zur Praxis?
Daniel sagt: Wichtig ist es, die Menschen gut kennenzulernen und passende Methoden zu wählen.
Zum Beispiel: Modelle zum Anfassen oder einfache Sprache.
Joel sagt: Jungen* sollen sich nicht falsch fühlen, nur weil sie anders sind.
Sie sollen merken: Es ist normal, verschieden zu sein.
Was möchten sie erreichen?
- Jungen* sollen selbstbewusst werden.
- Sie sollen über ihren Körper und ihre Sexualität Bescheid wissen.
- Sie sollen ihre Rechte kennen und so leben können, wie sie das möchten.
- Sie sollen lernen, ihre Grenzen zu kennen und die Grenzen anderer zu achten.
- Fachkräfte sollen sich Zeit nehmen und auch über ihre eigenen Denkweisen nachdenken.
Was ist ihnen wichtig?
- Inklusion bedeutet nicht Perfektion.
- Es geht darum, offen zu sein und immer wieder Neues zu lernen.
- Alte Bilder von „Männlichkeit“ sollen hinterfragt werden.
- Jungen* sollen lernen: Verletzlichkeit ist okay.
Zum Schluss sagen beide:
Sie freuen sich auf den Workshop und den gemeinsamen Weg.
Denn: Inklusion heißt, auf dem Weg zu sein.